Eine fragile Familie in der Pandemie
Wie war dein Leben im März 2020? Wie isoliert hast du gelebt? Wie gut ist es dir gelungen, die Kontakte zu Familie und Freunden zu pflegen? Haben sich alte Konflikte und Probleme relativiert oder wurden sie in der Pandemie größer oder gar unlösbar? Hast du Menschen verloren? Welche Bindungen haben sich vertieft? Was hat dich in Verzweiflung gestürzt? Wer hat dich gerettet?
Wie unter einem Brennglas wirken in der Pandemie Schwächen, Herausforderungen, Beziehungstiefs und Ängste viel größer, schärfer und schmerzhafter.
Diesen Brennglaseffekt auf unsere familiären und freundschaftlichen Dissonanzen hat auch der Tod. Ist absehbar, dass ein Familienmitglied oder Freund sterben wird, sorgen bislang verdrängte oder verschwiegene Probleme für Risse und Eruptionen in den Fassaden. Was da ausbrechen will, lässt sich nicht aufhalten.
In „Die Wütenden und die Schuldigen“ von John von Düffel müssen im März 2020 die drei Generationen einer Familie beides durchleben: Die Pandemie mit Besuchsverboten, Quarantäne und Abstandsgeboten und der absehbare Tod des schwerkranken Großvaters bringen die einzelnen Familienmitglieder ordentlich ins Schlingern. Der ohnehin zerbrechliche Zusammenhalt droht ganz einzustürzen.
Da ist der todkranke Richard, evangelischer Pfarrer, der allein in der Uckermark lebt. Gott ist ihm kein Trost.
Seine bis zum Schluss eher blass bleibende Schwiegertochter Maria ist Ärztin in Berlin. Als sie in Quarantäne muss, verbringt sie diese Zeit bei einem ihr bis dahin unbekannten Rabbi, offenbar um ihrem Sohn aus dem Weg zu gehen. Die Geschichte um Maria und den Rabbi behält für mich bis zum Ende vor allem Fragezeichen.
Richards Enkelsohn leidet an Nachpubertät, Drogenproblemen, Liebeskummer und an sich selbst. Schließlich kriegt er doch noch irgendwie die Kurve.
Enkeltochter Selma steckt selbst in einer tiefen Krise und versucht dennoch ihre Familie um Großvater Richard herum zu versammeln. Richards Sohn befindet sich seit Jahren in der Psychiatrie, nachdem sein Suizidversuch misslang. Obwohl diese Figur größte Distanz wahrt, kommt sie mir nahe und stellt Fragen: Kann ein Mensch an der Unrettbarkeit unserer Welt und dem offensichtlichen Leid so sehr verzweifeln, dass nur ein Suizid der Ausweg ist? Oder: Ist es moralisch verwerflich, einen Jäger zu erschießen, der gerade auf einen Eisbären schießen will? Zumal der Jäger nur ignorante und betrunkene Antarktiskreuzfahrttouristen schützen soll?
Die stärkste Figur und die Rettung für diese Familie ist die Palliativärztin Kathi, Freundin von Maria, die mit deren Tochter Selma zum Großvater reist. Palliative Versorgung scheint das zu sein, was der jetzt am dringendsten benötigt. Doch am Ende ist es doch so viel mehr und der Tod lässt sich nicht kalkulieren.
Kathi hat einen klaren Blick auf die Verhältnisse. Sie spricht aus, was den anderen einmal weh und einmal gut tut, ihnen aber immer auf die Sprünge hilft.
Pandemie und Tod werfen uns, so verstehe ich John von Düffel, zurück auf die ganz großen Fragen unseres Lebens. Welche das sind? Jedes Individuum hat andere Lebensthemen. Wichtig ist, sich mit ihnen früh genug zu beschäftigen. Es sei ein Irrglaube, unsere großen Fragen würden sich von selbst im Sterben beantworten, so Kathi. Wir müssen sie zu Lebzeiten klären. Wie gut oder schlecht wir darin sind, bestimmt vielleicht am Ende, ob wir wütend oder schuldig abtreten. Oder sogar versöhnt und friedlich:
„Es klingt vielleicht seltsam, wenn ich das sage, aber die meisten Menschen versprechen sich vom Sterben zu viel. Sie hoffen, dass alles zu einem Ende kommt, was sie im Leben nicht geschafft haben, womit sie nicht fertiggeworden sind, das ganze Unerlöste.“ (Kathi)
Die Romanfigur Kathi ist mein Angelpunkt in diesem Roman. Sie scheint mir lebendiger und plastischer als die anderen Protagonisten. Vielleicht liegt es an der vermuteten Vorlage: Im Jahr 2013 erschien das Buch „Geschichten vom Sterben“, das John von Düffel mit der Palliativärztin Petra Anwar schrieb (Verlag Piper, ISBN 978-3-492-05577-2). Ich habe es unmittelbar nach diesem Roman gelesen und empfehle es sehr.
Im März 2020 wusste noch niemand, dass der März 2021 ebenfalls kein Kindergeburtstag werden würde. Wir brauchten/brauchen einen langen Atem. Der war/ist länger, als ihn die Romanprotagonisten haben mussten. Ich werde diese Zeit – sollte sie einmal einen Abschluss finden - nie vergessen, aber sicher vieles verdrängen, was mich belastet (hat). Dieser Roman wird mich daran erinnern. John von Düffels Roman „Die Wütenden und die Schuldigen“ ist für mich unterhaltende, tiefgehende bewegende Literatur. Und er ist ein Zeugnis meiner Zeit.
John von Düffel: „Die Wütenden und die Schuldigen“, Verlag Dumont, ISBN: 978-3-8321-8163-5
Foto Buchcover: Verlag Dumont
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